Lass mal stecken

Mit dem Rauchen hatte unser Süchtling nie ein Problem. Das bekam er erst, als er nach 21 Jahren versuchte, damit aufzuhören:

TEXT: Martin Trockner

Sechs Dinge bestimmen mein Leben. Und noch nicht mal eins davon hat ansatzweisemit Sex zu tun. Nervosität, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Unruhe, Heißhunger und Schweiß­ausbrüche sind die Eckpfeiler meiner Existenz, seit ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Vereinfacht ausgedrückt: Ich bin ein Nervenbündel. Und noch einfacher ausge­drückt: Ich drehe verdammt noch mal durch. Unter den Folgen dieser Symptome leidet auch mein Sozialleben. Niemand will es sich mehr antun, sich zwei Stunden mit mir ins Kino zu setzen, um miterleben zu müssen, wie ich zwei Packungen Taschentücher verschleiße, nur damit mir der Stirnschweiß nicht in die Popcorntüte tropft.   

Die Rettung aus dieser Misere ist reine Selbst­verstümmelung, auch wenn es meine Kranken­kasse wohlwollend Anti-Raucher-Akupunktur nennt. Die Infobroschüre, die ich nach einem Wutausbruch, zwei Schokoriegeln und einer hal­ben Packung Tempo telefonisch bei meiner Versicherung anfordere, ist vielversprechend. Wenn ich dazu bereit bin, mir Nadeln in die Ohren schie­ben zu lassen, stehen meine Erfolgschance, ein glücklicher und ein (verdammter Mist noch mal) ausgeglichener Nichtraucher zu werden, nicht schlecht. Die Erfolgsquote allein im ersten Monat liegt bei über 61 Prozent. Ich vereinbare sofort einen Termin beim ersten Arzt, der am Telefon nicht fragt, ob ich privatversichert bin.   

„Sie können wieder nach Hause gehen“, begrüßt mich mein Arzt eine Woche später im Wartezimmer. „Sie haben gerade geraucht. Ich kann es riechen. Das geht nicht.“ Mindestens zwölf Stunden vorher sollte ich ohne Nikotin sein. Das schaffe ich. Vielleicht. Zum Glück bekomme ich am nächsten Tag wieder einen Termin. Nach­dem der Arzt an mir geschnuppert hat, erklärt er sich bereit, mich zu nadeln. Was ich nicht wusste: Ich bekomme nicht einfach nur ein paar Piekser ins Ohr, sondern Dauernadeln, die ich bis zu fünf Tage lang im Ohr behalten muss. Entfernen darf ich sie dann selbst - so viel zum Thema Rundumversorgung. 

Der Arzt erklärt, dass er an meinem Ohrläppchen den Frustrationspunkt, den Aggressionspunkt sowie den Beruhigungs­punkt penetrieren wird. Besonders Letzterer würde mir gefallen, verspricht er grinsend. Dort eine Nadel reinzutreiben, würde sich anfühlen, als hätte ich Valium geschluckt. Was er nicht weiß: Damit ich die zwölf Stunden ohne Kippe schaffe, hab ich mir schon ein Beruhigungsmittel einge­worfen. Das Stechen selbst ist nicht schmerzhaft und auch die Dauernadeln spüre ich nicht. Zumindest noch nicht. Allerdings entwickle ich ein neues Symptom, als ich die Praxis verlasse: Paranoia. Ich habe das Gefühl, dass alle Menschen auf meine Ohren starren. Schlagartig wird mir klar, warum ich mir als Teenager nie einen Ohr­ring stechen ließ: weil es scheiße aussieht. Zwei Tage später beende ich das Akupunktur- Experiment. Erstens kann ich nachts noch immer nicht schlafen, da sich die Dauernadeln tiefer ins Ohr schieben, wenn ich auf der Seite liege - und das ist nun mal die einzige Position, in der ich ein­schlafen kann. Zweitens rauche ich wieder mehr als vorher. Die Nadel, die in meinem Beruhi­gungspunkt steckt, entspannt mich so dermaßen, dass ich mir ständig eine anzünden muss.